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Ungewollt Sex ohne Kondom: Ein Stealthing-Opfer berichtet

Ungewollt Sex ohne Kondom: Ein Stealthing-Opfer berichtet
Foto:  Alamy Stock Photo

Immer öfter berichten Frauen, dass Sexpartner heimlich das Kondom abziehen. Dass „Stealthing“ als Vergewaltigung gilt, wissen die wenigsten. Eine Betroffene erzählt.


Ich lernte Jens, der eigentlich anders heißt, in einer Bar kennen. Er war mir auf Anhieb sympathisch. Die ganze Nacht quatschten wir, bis er mir morgens um 6 Uhr vorschlug, Frühstück zu machen. Doch beim Essen blieb es nicht: Bei ihm angekommen, schliefen wir miteinander. Es war mein erster One-Night-Stand, die Situation war neu für mich. Ich wusste nicht, wie es ablaufen würde – einzig und allein sicher war ich mir darin, dass wir ein Kondom benutzen sollten. Auf keinen Fall wollte ich ein Risiko eingehen – schließlich kannte ich Jens so gut wie gar nicht. Er stimmte zu.

Plötzlich war das Kondom weg

Als wir Sex hatten, merkte ich plötzlich, dass das Kondom weg war. Während mein Herz heftig pochte, suchte ich hektisch nach dem Gummi und fand es einen Augenblick später zerknautscht auf dem Fußboden neben dem Bett – als hätte es jemand weggeworfen. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, als wenn mein Herz aussetzt, und mir wurde schlecht. Wie konnte ich das nicht bemerkt haben? Hysterisch fragte ich Jens, wie das Kondom dort hingekommen sei. Er gestand, dass er es abgenommen hatte, als ich nicht hinsah. „Warum tust du das?“, schrie ich ihn an, während ich aufsprang und mich anzog. Er tat so, als wisse er nicht, was das Problem sei: „Reg dich nicht auf. Mit Kondom fühle ich nicht so viel. Ich wollte dich intensiver spüren.“

Ich stürmte aus seiner Wohnung. Angst vor einer Schwangerschaft hatte ich zwar nicht, da ich die Pille nahm. Doch vor Geschlechtskrankheiten wie HIV, Hepatitis und Syphilis hatte ich Panik.

Missbrauch auf mehreren Ebenen

Was Jens gemacht hatte, wird seit einiger Zeit „Stealthing“ (auf Deutsch „Verstohlenheit“) genannt: Zwei Personen haben einvernehmlich Geschlechtsverkehr, bis einer der beiden heimlich das Kondom beim Stellungswechsel abzieht. In einschlägigen Internetforen tauschen sich Täter über Steal-thing-Techniken aus und prahlen mit ihren Erlebnissen. So schreibt ein Nutzer: „Sie wollte mit, hab erst eins rüber gemacht und dann runter. Danach war das Geschrei groß. Mir egal, bin gut gekommen.“ Der Wille der Frau ist ihnen egal. Was zählt, ist ihre eigene Befriedigung und Macht. So schreibt ein weiterer Nutzer, dass er sich beim Stealthing besonders überlegen fühlt. Ein anderer meint, die Praktik gebe ihm „diesen besonderen Kick“.

Für Betroffene sieht das dagegen ganz anders aus: Ich fühlte mich ausgenutzt und hilflos. Ich ließ mich fallen und vertraute darauf, dass er nichts tun würde, was ich nicht wollte. Ich war wütend auf mich selbst und dachte daran, dass man Fremden niemals trauen sollte.

Dennoch wusste ich von Anfang an, dass es nicht meine Schuld war. Er brach unsere Abmachung hinterrücks, indem er das Kondom ohne mein Wissens abnahm. Es ist mein Körper – und er entriss mir meine alleinige Entscheidung über ihn. Dadurch missbrauchte er nicht nur mein Vertrauen, sondern auch meinen Körper – physisch und psychisch. Jens versuchte mir einzureden, dass ich verrückt wäre, weil ich so überreagiere. Anfangs hatte er damit auch Erfolg: Auf dem Weg nach Hause begann ich daran zu zweifeln, ob ich klar genug gesagt hatte, dass ich ein Kondom benutzen wollte.

Doch als ich schließlich meine beste Freundin anrief, redete sie mir diesen Gedanken aus. Sie war bestürzt und ging mit mir zur Frauenärztin. Sie war die Erste, die mir erklärte, dass Jens’ Tat unter Vergewaltigung falle und ich ihn anzeigen könne. Das wusste ich nicht. Aus Angst, dass mir keiner glauben würde, tat ich das nicht. Vielleicht hätte die Polizei gesagt, dass ich angetrunken gewesen sei – und mich gefragt, ob ich mir nicht alles eingebildet hätte. Ich wollte keine Energie in einen langwierigen Prozess stecken, den ich am Ende aufgrund von Aussage gegen Aussage verlor.

Stealthing ist Vergewaltigung

Stealthing-Opfer – darunter auch Männer – tauschen sich auf Twitter unter dem Hashtag Stealthing über derartige Erlebnisse aus und diskutieren darüber, was Stealthing ist und ob es überhaupt strafbar sei – die Unklarheit darüber ist offenbar groß. „Wir betreten da strafrechtliches Neuland“, erklärt auch die Juristin und Dozentin für Medienrecht Natalia Theissen.

Dennoch ordnet sie Stealthing als Vergewaltigung ein. Seitdem die Nein-heißt-Nein-Regelung im Jahr 2016 in Kraft getreten ist, sei es ausreichend, wenn der Täter gegen den erkennbaren Willen einer Person sexuell handle, um sich strafbar zu machen. „Es ist nicht mehr nötig, dass dieser den Geschlechtsverkehr mit Gewalt oder Gewaltandrohung erzwingt oder sich das Opfer körperlich gegen den Sexualakt wehrt“, sagt sie. Weinen oder ein einfaches Nein genügen.

Denn wie bei einer Vergewaltigung nimmt der Täter sexuelle Handlungen an seinem Opfer vor, mit denen es nicht einverstanden ist. Der Gesetzgeber hebt diesen Umstand als besonders erniedrigend hervor. „Häufig wissen die Opfer nicht, dass Stealthing strafbar ist“, so Medienrechtlerin Theissen. Sie vermutet auch, dass sich diese, wie bei anderen sexuellen Straftaten, schämten.

Auch auf Youtube häufen sich Beiträge über Stealthing: In vielen Kommentaren werden Betroffene beschuldigt, sie seien selbst schuld, wenn sie betrunken mit einem Fremden ins Bett stiegen.
Doch ich lasse mich nicht in diese Rolle drängen. Ich wollte keinen ungeschützten Sex. Jens hat gegen meinen Willen gehandelt. Zwar hat er mich zum Glück mit keiner Geschlechtskrankheit angesteckt – doch seine kalte Gleichgültigkeit und dieses lähmende Gefühl, die Hilflosigkeit, werde ich nicht vergessen. Und auch alle anderen Opfer sollten die Schuld auf keinen Fall bei sich selbst suchen. Niemand darf meine sexuelle Selbstbestimmung verletzen. Niemand.

Aufgezeichnet von Kristin Schaper


Über den Autor/die Autorin:

MADS-Team

Unter diesem Namen sammeln wir Beiträge von Gastautorinnen und -autoren, Autorenkollektiven oder freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei MADS. Die Namen des jeweiligen Autors oder der jeweiligen Autorin stehen unter dem einzelnen Beitrag.

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